Teil 7 Auf Ewig Unvergessen

Kapitel Dreiundzwanzig

1

Betsy hörte, wie ein Wagen vorfuhr, und schaute aus dem Küchenfenster.

»Das ist Papi!« rief Kathy begeistert. Sie hatte schon den ganzen Nachmittag im Wohnzimmer gewartet und wollte nicht einmal fernsehen, seit ihr Betsy gesagt hatte, dass sie das Wochenende bei Rick verbringen durfte.

»Hol deine Sachen!« sagte Betsy zu Kathy, als sie die Tür öffnete.

»Alle schon da, Mama«, antwortete Kathy und deutete auf ihren Rucksack, die Tasche mit den Büchern, die kleine Handtasche und auf Oliver, den Stoffskunk.

Die Tür ging auf, und Kathy sprang Rick in die Arme.

»Wie geht's, mein Tiger?« erkundigte sich Rick lachend.

»Das habe ich alles selbst gepackt«, sagte Kathy und deutete auf ihre Sachen.

»Hast du auch an die Zahnbürste gedacht?« fragte Betsy plötzlich.

»Hm, nö«, antwortete Kathy.

»Das dachte ich mir. Lauf und hol sie sofort her, kleine Lady!«

Rick setzte Kathy ab, die sofort den Hur zum Badezimmer entlanglief.

»Sie ist ganz aufgeregt«, erzählte Betsy Rick. Irgendwie schien er sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen.

»Ich habe mir überlegt, mit ihr in die Spaghetti Factory zu gehen.«

»Das wird ihr gefallen.«

Einen Moment standen sie sich stumm gegenüber.

»Du siehst gut aus, Bets.«

»Du solltest mich einmal sehen, wenn ich nicht den ganzen Tag bei einer Gerichtsverhandlung mit Richter Spencer war«, gab Betsy selbstbewusst zur Antwort, damit das Kompliment zur Seite wischend. Puck wollte noch etwas sagen, aber da kam Kathy schon mit ihrer Zahnbürste zurück, und so ging die Gelegenheit vorbei.

»Bis Montag«, verabschiedete Betsy ihre Tochter und gab ihr einen dicken Kuss. Rick nahm Kathys Sachen, nur den Stoffskunk trug sie selbst Betsy beobachtete von der Tür, wie sie wegfuhren.

2

Alan Page sah von seinem Schreibtisch auf. Randy Highsmith und Ross Barrow standen in der Tür. Er warf einen Blick auf seine Uhr, es war knapp halb sieben.

»Ich habe gerade mit Richter Ryder telefoniert. Sie ist immer noch nicht zurück«, berichtete Barrow.

Page legte den Stift aus der Hand.

»Was sollen wir tun? Es gibt nicht den geringsten Anhaltspunkt, der auf Darius hindeutet«, entgegnete Page. Er war bleich, und seine Stimme klang erschöpft und niedergeschlagen.

»Wir haben ein Motiv, AI«, gab Barrow zu bedenken. »Lisa Darius ist die einzige Person, über die eine Verbindung zwischen Martin und Sam Oberhurst herzustellen ist. Während er im Gefängnis war, kam er nicht an sie heran. Ich behaupte, wir haben zumindest einen begründeten Verdacht. Kaum ist er draußen, verschwindet sie.«

»Und da gab es den Telefonanruf«, fügte Highsmith hinzu.

»Ryder ist nicht sicher, dass seine Tochter bedroht wurde. Der Anruf kann sogar als Warnung an Lisa vor jemand anderem angesehen werden.« Page schüttelte den Kopf. »Ich begehe nicht zweimal den gleichen Fehler. Bevor wir nicht klare Beweise haben, werde ich keinen Durchsuchungsbefehl beantragen.«

»Jetzt werde nicht übervorsichtig, AI!« warnte ihn Highsmith. »Jemand schwebt in Lebensgefahr.«

»Das weiß ich«, gab Page wütend zurück. »Aber wo sollen wir suchen? In seinem Haus? Er wird bestimmt nicht so dumm sein, sie dort zu haben. In Häusern, die er besitzt? In welchem? Ich bin genauso frustriert wie ihr, aber wir müssen uns in Geduld fassen.«

Highsmith wollte gerade etwas sagen, als die Sprechanlage sich meldete.

»Ich weiß, dass sie nicht gestört werden wollten«, entschuldigte sich seine Sekretärin, »aber Nancy Gordon ist am Telefon.«

Page lief es kalt den Rücken hinunter. Highsmith und Barrow richteten sich auf. Page stellte den Apparat auf mithören.

»Detective Gordon?«

»Es tut mir leid, dass ich mich abgesetzt habe, Mr. Page«, sagte eine Frauenstimme. Page versuchte sich zu erinnern, wie Nancy Gordons Stimme geklungen hatte. Er erinnerte sich an einen kehligen Klang, doch die Verbindung war schlecht, und die Stimme der Frau klang aufgeregt.

»Wo sind Sie?«

»Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen«, meinte Nancy. Page hatte den Eindruck, dass ihre Stimme irgendwie schleppend und unsicher klang.

»Haben Sie die Nachrichten verfolgt? Wissen Sie, dass Darius draußen ist, weil wir bei der Kautionsanhörung Ihre Zeugenaussage nicht hatten?«

»Das ging nicht anders. Über kurz oder lang werden Sie alles verstehen.«

»Ich will es aber jetzt verstehen, Detective. Wir haben hier ein Problem. Darius' Frau ist verschwunden.«

»Ich weiß. Deshalb rufe ich an. Ich weiß, wo sie ist. Sie müssen sich beeilen.«

3

Die Darius-Baugesellschaft war in Schwierigkeiten. Als Darius in Haft genommen worden war, standen zwei lukrative Aufträge kurz vor dem Abschluss. Beide gingen aber dann an andere Firmen, und solange Darius unter Anklage stand, würden auch keine neuen Aufträge hereinkommen. Darius hatte fest mit dem Geld aus diesen beiden Projekten gerechnet, um damit die finanziellen Probleme der Firma in den Griff zu kriegen. Ohne das Geld war es durchaus möglich, dass er bankrott ging.

Darius verbrachte den Tag mit seinem Buchhalter, seinem Anwalt und seinen Vizepräsidenten, um einen Plan auszuarbeiten, wie man die Firma retten konnte, aber er hatte Schwierigkeiten, sich auf das Geschäftliche zu konzentrieren. Er brauchte Betsy Tanenbaum, und sie hatte ihn fallengelassen. Erstens war ein weiblicher Verteidiger wichtig, damit er einen Vorteil bei den Geschworenen hatte. Zweitens hatte Betsy die Kautionsanhörung gewonnen und ihn davon überzeugt, dass sie die Fähigkeiten hat, ihn zu retten. Ihr letztes Treffen hatte seinen Respekt vor ihr noch vergrößert. Betsy Tanenbaum war stark. Die meisten Frauen wären zu ängstlich gewesen, ihm allein gegenüberzutreten. Sie hätten sich einen Mann zum Schutz geholt. Darius war davon überzeugt, Betsy würde nie unter dem Druck einer Gerichtsverhandlung zusammenbrechen, und er wusste, dass sie bis zum bitteren Ende für einen Klienten, dem sie glaubte, kämpfen würde.

Als das Treffen um sechs Uhr abends zu Ende war, fuhr Darius nach Hause. Er tippte den Code für das Gartentor ein, das mit einem metallischen Geräusch aufschwang. Darius blickte in den Rückspiegel. Er sah die Scheinwerfer eines Wagens, der am Gartentor vorbeifuhr, dann machte die Auffahrt eine Biegung, und er verlor das Tor aus dem Blickfeld.

Darius betrat das Haus durch die Garage und stellte die Alarmanlage ab. Im Haus war es still und kalt. Als Lisa noch hier wohnte, existierten immer irgendwelche Hintergrundgeräusche von Küchengeräten, dem laufenden Fernsehapparat und Lisas Schritten. Darius war gerade dabei, sich an die Stille, die ihn umgab, wenn er nach Hause kam, zu gewöhnen.

Das Wohnzimmer wirkte steril, als er das Licht anschaltete. Darius legte Jackett und Krawatte ab und schenkte sich einen Scotch ein. Er fragte sich, ob es einen Weg gab, Betsy davon zu überzeugen, seinen Fall wieder zu übernehmen. Ihre Wut war deutlich gewesen, aber die konnte wieder abkühlen. Es war ihre Furcht vor ihm, die sie abschreckte. Er konnte ihr keinen Vorwurf machen, wenn sie ihn für ein Monster hielt, nach allem, was ihr Colby erzählt hatte. Normalerweise erregte Darius die Furcht einer Frau, aber Betsys Furcht trieb sie von ihm weg, und er hatte keine Ahnung, wie er sie beschwichtigen könnte.

Darius nahm seine Krawatte und das Jackett über den Arm und ging hinauf ins Schlafzimmer. Er hatte den ganzen Tag kaum etwas gegessen, und sein Magen knurrte. Er schaltete das Licht ein und stellte das Glas auf die Kommode. Als er sich zum Schrank umdrehte, sah er aus dem Augenwinkel einen Farbfleck. Auf seinem Bett lag eine schwarze Rose. Unter der Rose befand sich ein Zettel. Ihm drehte sich der Magen um. Er hetzte in den Flur, aber da war niemand. Er lauschte angestrengt, aber da war nicht das geringste Geräusch.

Darius hatte eine Waffe in der Kommode. Jetzt holte er sie heraus. Sein Herz raste. Wie konnte jemand in sein Haus eindringen, ohne den Alarm auszulösen? Nur er und Lisa kannten den Code und... Darius erstarrte. Sein Verstand vollzog den einzig logischen Schritt, und er eilte in den Keller, wobei er im Vorbeigehen alle Lichter im Haus anschaltete.

Darius zögerte am oberen Ende der Kellertreppe, er wusste, was er sehen würde, wenn er das Licht anmachte. Er hörte die erste Sirene, als er auf der halben Treppe war. Er überlegte sich umzukehren, aber er musste Gewissheit haben. Ein Polizeiwagen kam schleudernd vor dem Haus zum Stehen, als Darius am Ende der Treppe angelangt war. Er legte die Waffe weg, weil er das Risiko nicht eingehen wollte, erschossen zu werden. Außerdem würde er sie nicht brauchen. Als er sah, wie der Körper zugerichtet war, wusste er, dass sich außer ihm niemand im Haus befand.

Lisa Darius lag in der Mitte des Kellers auf dem Rücken. Sie war nackt. Ihr Bauch war aufgeschlitzt worden, und durch ein klaffendes, blutiges Loch konnte man ihre Gedärme sehen. In genau dieser Stellung war der Körper von Patricia Cross im Keller von Henry Waters' Haus gefunden worden.

4

Sobald Rick und Kathy außer Sicht waren, ging Betsy zurück in die Küche und machte sich etwas zu essen. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt, eine Freundin anzurufen und mit ihr zum Essen zu gehen, doch die Vorstellung, einen ruhigen Abend zu Hause zu verleben, war zu faszinierend gewesen.

Nach dem Essen ging Betsy ins Wohnzimmer und schaute ins Fernsehprogramm. Nichts erweckte ihr Interesse, und so setzte sie sich in einen gemütlichen Sessel und las in einem Roman von John Updike. Sie war gerade dabei, sich in die Handlung des Buches zu verlieren, als das Telefon klingelte. Betsy seufzte und ging in die Küche, um den Anruf entgegenzunehmen.

»Mrs. Tanenbaum?«

»Ja.«

»Hier spricht Alan Page.« Er klang wütend. »Ich bin im Haus von Martin Darius. Wir haben ihn gerade wieder verhaftet.«

»Aus welchem Grund?«

»Er hat seine Frau umgebracht.«

»Mein Gott. Was ist passiert?«

»Ihr Klient hat Lisa Darius im Keller den Bauch aufgeschlitzt.«

»Nein.«

»Sie haben ihr wirklich einen Gefallen getan, als Sie Norwood dazu brachten, Darius gegen Kaution freizulassen«, bemerkte Page bitter. »Ihr Klient will mit Ihnen sprechen.«

»Glauben Sie mir jetzt, Mrs. Tanenbaum?« fragte Darius. »Merken Sie, was hier vorgeht?«

»Sagen Sie nichts! Die Polizei hört zu, Martin. Ich treffe Sie morgen früh.«

»Dann bleiben Sie also mein Anwalt?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Sie müssen! Fragen Sie sich doch mal, wie die Polizei das mit Lisa herausgefunden hat, dann wissen Sie, dass ich unschuldig bin.«

War Darius wirklich unschuldig? Es ergab keinen Sinn, dass er seine Frau umbrachte und die Leiche dann in seinen Keller legte. Betsy dachte an das, was sie von Hunters Point wusste. Sie stellte sich Henry Waters vor, wie er die Tür aufmachte, Nancy Gordon, wie sie die Treppe in Waters' Keller hinunterstieg, der entsetzte Ausdruck auf Waters' Gesicht, als er Patricia Cross aufgeschlitzt in ihrem eigenen Blut sah. Es war wieder wie bei Patricia Cross. Darius hatte ihr gesagt, sie solle nachfragen, wie die Polizei die Information über Lisas Leiche im Keller erhalten hatte. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie es damals bei Patricia Cross gewesen war.

»Geben Sie mir noch mal Page«, wies sie Darius an.

»Ich möchte nicht, dass irgendjemand mit Darius spricht«, erklärte sie dem Staatsanwalt.

»Daran wurde ich nicht im entferntesten denken«, gab Page grob zurück.

»Sie verschwenden Ihren Ärger an mir, Alan. Ich kannte Lisa Darius besser als Sie. Es tut weh, glauben Sie mir!«

Page war einen Moment still; als er wieder zu sprechen ansetzte, klang er kleinlaut.

»Sie haben recht. Es hat keinen Zweck, Ihnen den Kopf abzureißen. Ich ärgere mich genauso über mich, dass ich die Kautionsanhörung versaut habe, wie über Sie, dass Sie so gut waren. Aber diesmal bleibt er drin. Norwood wird nicht noch mal einen Fehler begehen.«

»Alan, wie haben Sie davon erfahren, dass Lisas Leiche dort im Keller liegt?«

Betsy hielt die Luft an, während Page überlegte, ob er antworten sollte.

»Nun, Sie werden es ja sowieso erfahren. Wir bekamen einen Tipp.«

»Von wem?«

»Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen.«

Einen Tipp, genauso wie der anonyme Anrufer die Polizei in Hunters Point auf die Spur von Waters gebracht hatte. Betsy legte auf. Ihre Zweifel an Darius' Schuld wuchsen. Martin Darius hatte die Frauen in Hunter Point ermordet, aber hatte er auch die Frauen in Portland umgebracht?

Auf ewig unvergessen
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